(2017)
Meine erste Begegnung mit den Werken Henri Bergsons war im Sommer 2016. Zufälligerweise sah ich sein Buch ‘Dauer und Gleichzeitigkeit – Über Einsteins Relativitätstheorie’. Ich wusste damals nicht von der besonderen Geschichte des Buches, ahnte aber sofort, dass ich es lesen wollte.
Mit dem Thema Zeit war ich schon lange beschäftigt, hatte mich erst kurz davor Einsteins Relativitätstheorie, der Raumzeit und der Quantentheorie zugewandt – unter dem Aspekt der Verbindung von Zeit und Raum im philosophischen Sinn.
Das Buch hat mich umgehauen. Bergson beschreibt und erläutert Einsteins Relativitätstheorie hervorragend. Er bestreitet sie nicht, erklärt aber ganz deutlich, warum Einstein seiner Meinung nach die falschen Schlussfolgerungen zieht.
Denn obwohl Einstein erklärt, dass Zeit nicht überall gleich ist, benutzt er schon einen einzigen Grundbegriff für Zeit. Es heisst zwar Relativitätstheorie, die gemeinte Relativität ist aber begrenzt – so begrenzt, dass Einsteins Begriff der Zeit laut Bergson außerhalb einer wissenschaftlichen, mathematischen Umgebung nicht funktioniert.
Zeit ist kein konstanter, universeller Faktor. Sie gehört zu uns Menschen. Sie ist damit verbunden, dass jeder Mensch weiss, dass er nur ein gewisses Maß davon hat, und dass dies ständig – mit jedem Moment – abnimmt. Wir können uns keine Welt ohne Zeit vorstellen. Das heisst aber nicht unbedingt, dass es keine Welt ohne Zeit gibt.
Das Buch ist die Antwort Bergsons auf Einsteins Präsentation seiner Theorie am 6. April 1922 an der ‘Societé Francaise de Philosophie’ in Paris. Damals wurde Einstein erst langsam eine bekannte Person, Bergson aber war schon weltweit als französischer Philosoph berühmt.
Was dann zwischen Einstein und Bergson passierte, hat unsere Welt bis heute geändert. Es hat Einstein erstmal seinen Nobelpreis gekostet, und als er ihn später bekam, bekam er ihn nicht in erster Linie für seine Relativitätstheorie.
Die Geschichtswissenschaftlerin Jimena Canales beschreibt es ausführlich in ihrem Buch ‘The Physicist and the Philosopher: Einstein, Bergson, and the debate that changed our understanding of time’. Eins wird dabei sehr deutlich – ich paraphrasiere: wenn wir heutzutage eine Frage zum Thema Zeit haben, wenden wir uns an Stephen Hawkins; vor hundert Jahren hätten wir uns an einen Philosophen gewandt.
Die industrielle Revolution hat die Welt und damit auch das Denken geändert. Die Wissenschaft hat sich fast zu einer neuen Weltreligion entwickelt. Technik und Geld geben heute den Ton des Fortschritts an. Noch in der Nachfolge anderer Philosophen, wie zum Beispiel Nietzsche, hat Bergson für den menschlichen Aspekt gestritten – in der Welt und in der Wissenschaft.
Da stoßen wir meiner Meinung nach auf eine Paradox. Die Welt aus der Sicht der Menschen zu betrachten, heißt nicht unbedingt, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Einstein dachte vom Universum her, er suchte die Konstante. Man könnte argumentieren, er stelle dabei den Mensch weniger zentral und betrachtet die Zeit, die Welt, als führend. Aber gerade weil er als Mensch dachte, übersah er den menschlichen Faktor. Die Zeit unabhängig vom Menschen zu sehen, zeigt, wie abhängig der Mensch von der Zeit, und damit die Zeit vom Menschen ist.
Man sagt, wir erleben im Moment eine neue Revolution durch das Internet. Das mag sein; die Welt hat sich durch die neuen Techniken schon wieder unvorstellbar geändert. Für mich wäre eine neue Revolution aber eine neue kopernikanische Wende, wobei der Mensch endlich wirklich einsehen würde, dass die Welt sich um die Sonne, nicht um den Mensch dreht.
Trotz aller Änderungen bleibt die wesentliche Frage, was es eigentlich heißt, zu leben und wie man so gut wie möglich durch kommt. Auf der Suche nach der Wahrheit kann man seinen Träumen und Überzeugungen folgen, sollte sich aber ab und zu auch fragen, wie groß dabei der Anteil von Vergangenheit und Zukunft ist, und wie diese sich zum derzeitigen Moment verhalten.
Die Suche nach dem Jetzt, die virtuelle Verbindung zu Vergangenheit und Zukunft, zu Zeiten also, die es im Moment eigentlich nicht tatsächlich gibt, fasziniert mich grenzenlos. Im Moment leben zu können, scheint mir das Wichtigste. Aber wie schafft man das, wenn Vergangenheit und Zukunft für uns Menschen eine so große Rolle spielen?
Man könnte den Streit zwischen Einstein und Bergson als einen Konflikt zwischen Wissen und Nicht-Wissen betrachten. Beide sind sie auf der Suche nach der Wahrheit, beide aber suchen eine andere Wahrheit. Beide trauen sich zu zweifeln, aber es sind zwei verschiedene Arten des Zweifels. Der Wissenschaftler sucht nach einer Antwort, der Philosoph nach einer Frage. Ich glaube, dass es einen dritten Weg gibt, auf dem die zwei zusammenkommen.
Meine Begegnung mit Ralf Bartholomäus war eine besondere. Nicht nur wegen der Art und Weise, unserer Begeisterung für Bergson und unserem Blick auf Zeit und Gedächtnis, sondern auch wegen des Moments. Ich denke, Ralf hat dies mit den Begriffen Dauer und Werden sehr treffend zusammengefasst.
‘Ecce homo’, werde wer du bist, sagt Nietzsche. Meiner Meinung nach hat Bergson uns auf dieser Reise einen großen Schritt weitergebracht, indem er genau genommen sagt: werde wann du bist. Du bist deine Zeit. Mach dir etwas Gutes daraus.
Albert Raven, Mai 2017
Publiziert im Katalog zur Ausstellung in der galerie weisser elefant, Berlin